Die 2. Wende
29.04.2010 von viajero
Die 1. Wende
Ich bin in der DDR groß geworden. Meine Eltern waren in der Kirche (dem einzigen institutionellen Gegenspieler der DDR-Diktatur) und schon immer kritisch gegenüber dem System gewesen.
Es war für die meisten offensichtlich, daß sie vom DDR-Staat verarscht werden. Die Mauer um die bösen Imperialisten abzuwehren, hatte den Stacheldraht nach innen! Ein Konstruktionsfehler?
Trotzdem gab es tatsächlich Leute, welche den Schmus glaubten (das war bei Hitler ja auch schon so). Und viele die sich anpassten+mitmachten um studieren zu können oder Karriere zu machen.
Im Herbst ’89 war die Verarschung aber zu vielen bewußt und das Anpassen zu doof. Es ging los mit Gesprächskreisen und natürlich den Montagsdemos. Die Leute wachten plötzlich auf, hatten wieder viel mehr Freude und Tatendrang. Man konnte plötzlich öffentlich frei reden und es gab tausende Gleichgesinnte. Es war eine sehr schöne Zeit! Wie Frühling!
Es lag in der Luft, daß etwas Großes passieren würde. Tatsächlich und glücklicherweise war das Große nicht eine blutige Niederschlagung wie in Prag oder Peking, sondern ein friedlicher Umsturz. Es knisterte wirklich in der Luft, als wir bei den Montagsdemos den bewaffneten Polizisten Kerzen schenkten.
Man merkte auch, daß die Sicherheitsbeamten selbst nicht richtig wußten, wie sie reagieren sollten. Sicher hatten sie vorher eine Gehirnwäsche bekommen und erwarteten böse, gewaltbereite Umstürzler. Als es dann Familien mit Kindern, Rentner und Professoren waren, kamen ihnen vielleicht spätestens jetzt die ersten Zweifel an ihrem System-Glauben.
Der Mauerfall war dann natürlich ein Highlight und es gab eine richtige Jubelstimmung wie bei einem großen Sieg der eigenen Fußballmannschaft.
1 Jahr Machtvakuum
Aber auch danach blieb es bis zur Wiedervereinigung unheimlich aufregend. Der Himmel schien das erste Mal geöffnet, alles schien möglich zu sein und viel besser zu werden. Vor allem: wir selbst hatten es in der Hand. Die Politiker waren plötzlich normale Bürger von den Montagsdemos und nicht mehr unpersönliche Typen im Elfenbeinturm. Man konnte wirklich etwas bewegen!
Vor allem gab es dieses Jahr lang soviel Freiheit wie vorher und nachher nicht mehr. Die DDR-Diktatur hatte ausgedient und konnte einem nichts mehr anhaben und der Kapitalismus hatte die Ossies noch nicht einsortiert. Wir befanden uns sozusagen für 1 Jahr in einem Macht-Vakuum wo die Bürger mal nicht über den Tisch gezogen wurden. Da wurden auch ein paar richtig gute Gesetze gemacht (z.B. die Einrichtung der Nationalparks)
Im Sommer ’90 war ich im besten Ferienlager aller Zeiten. Ich war in der größten Gruppe. Die frühere Gängelei mit Apellen und so gab es natürlich nicht mehr. Dafür gab es unglaublich viele Rechte+Möglichkeiten. Vor allem für uns Älteste. Deutschland gewann auch noch die Weltmeisterschaft!
Später war ich selbst Ferienbetreuer. Diese Freiheiten für die Jugendlichen wurden nach der Vereinigung schnell wieder kassiert aufgrund von Sicherheitsdenken/Angst oder dem Klagerecht der Eltern usw. Dafür mußte man die richtigen Markenklamotten und Videospiele haben.
Das Machtvakuum spürte man auch bei Beamten+Polizei. Weder vorher noch nachher gab es so wenig Kontrolle und Willkür (und trotzdem wurde es von den Bürgern nicht ausgenutzt, sondern als Lebensqualität erfahren)
Natürlich waren nicht alle glücklich. Es gab z.B. diejenigen, welche bis zum Schluss an die sozialistischen Märchen geglaubt haben. Als es nun in Scherben lag, passierte das bei einigen auch mit der Psyche. Oder die früheren Nutznießer, welche nicht schnell genug die Kurve kriegten und ihrer Macht entledigt wurden, verfielen dem Alkohol.
Besetzung der Macht
Der Kapitalismus brauchte nur 1 Jahr um das entstandene Vakuum zu übernehmen. Dies lief genauso wie am Anfang des Sozialismus mit Versprechungen von der besseren Welt und den „blühenden Landschaften“. Die Menschen wurden mit genau dem angefüttert, was sie vorher nicht hatten (Reisefreiheit + alles ist käuflich). Auf was es dann langfristig zu verzichten galt, stand im Kleingedruckten. Das hat aber sowieso niemand lesen wollen.
Ob nun Abschaffung der Sklaverei, Feudalismus, französische Revolution… in der Geschichte war es bisher immer so. Nach einer Revolution (egal ob friedlich oder blutig), gab es nach nicht allzu langer Zeit wieder Strukturen, welche die einen zu Lemminge und die anderen zu einer Art von Herrschern machte. Dies sicher meist sogar unbewußt ohne wirkliche „Strippenzieher“ im Hintergrund (siehe „unbewußte Ausbeutung„). Nur dadurch, daß die Möglichkeit der Ausbeutung bestand, findet sich jemand der sie nutzt. Dieses oft sogar unwissentlich (wie z.B. bei der Zinsproblematik).
Das schleichende Gift
Das jetzige System zieht genauso die Masse sowie die Natur über den Tisch. Nutznießer ist eine Minderheit. Es ist nur nicht so offensichtlich.
Finanzkrise, marode Sozialsysteme, Arbeitslosigkeit, Wirtschaftsrezessionen, sinkende Realeinkommen, globale Umweltzerstörung, vermehrter Stress auf Arbeit + „Burnouts“, unsichere Renten, sinkende Lebensqualität, Schließungen von Schulen, Bädern+Bibliotheken…
Es fehlt immer mehr am Geld für die „richtigen Sachen“. Die Milliarden, welche über den Solidarpakt nach Ostdeutschland gekippt werden, gehen zügig mit anderen Milliarden über die Filialen von Aldi+Co. in die Konzernzentralen nach Westdeutschland oder in den Rest der Welt. Inzwischen bleibt das Geld aber auch nicht mehr in Westdeutschland oder dem Rest der Welt: Täglich sind in Deutschland inzwischen mehrere Milliarden € an Zinsen fällig, welche die Unternehmer für ihre Kredite zahlen müssen. Vor wenigen Jahrzehnten waren es lediglich Millionen. Diese Milliarden stecken in den Preisen der Güter. Somit zahlt jeder inzwischen durchschnittlich 40% vom Produktpreis diese Zinsen. Wenn jeder auch wieder von den Zinsen etwas abbeckommt, wäre ja alles in Ordnung. Allerdings gewinnen nur 10% der Haushalte in Deutschland dabei (diese aber richtig!). Damit existiert eine riesige Umverteilungsmaschine, welche täglich Milliarden von 90% der Deutschen zu den 10% reichsten Deutschen verteilt. Diese können soviel gar nicht ausgeben, sondern nur wieder anlegen -> Die Schere öffnet sich weiter… Bis wann???
Nicht nur die Wirtschaft drückt auf die Arbeitnehmer, sondern auch der Staat. Obwohl er ja jedes Jahr immer soviel Geld einnimmt und zusätzlich an Krediten aufnimmt (Staatsverschuldung). Dem gegenüber beschweren sich die Volkswirte+Zentralbanker, daß zu viel Geld an den Börsenmärkten ist und die Spekulationen anheizen bis sie platzen.
Das Geld ist also da, nur an der falschen Stelle. Die einen haben soviel, dass sie nicht wissen wohin damit und andere verhungern. Damit verwehrt es nicht nur den Nutzen, den das Geld an der richtigen Stelle (z.B. Bildung) hätte, sondern es schafft sogar zusätzliche Risiken und Zusammenbrüche zuerst im Finanzmarkt und dann in der Realwirtschaft mit Arbeitslosigkeit & Co.
Die 2. Wende
Inzwischen merken immer mehr Menschen, wie damals in der DDR, dass etwas faul ist und stinkt. Immer mehr Menschen glauben nicht mehr an die Versprechungen und Hinhaltetaktik der Politiker und wissen, dass es nicht so weitergehen kann.
Irgendwann (in 2, 5 oder 10 Jahren?) wird der Kaiser so nackt wie Honecker & Co. anno ’89 dastehen. Es wird dann den meisten klar sein, wie weit der Karren im Dreck steckt und das ohne einen Systemwechsel von Altland nach Neuland nichts mehr geht.
Dann wird es eine 2. Wende geben. Da bin ich schon gespannt drauf! Es wird wieder eine ungeahnte Aufbruchstimmung geben, die Luft wird knistern und alles wird möglich sein. Die Leute sehen nicht mehr so müde aus und man sieht wieder mehr echte Freude am Leben und Sinn in der eigenen Arbeit…
Genau wie ’89 wird es wieder Menschen geben, welche bis zum Schluss den Versprechungen des Kapitalismus auf den Leim gehen und z.B. denken, dass unser Problem die ganzen Sozialhilfeempfänger und faulen Leute („Harzer“), welche sich nur ausruhen, sind. Vielleicht sind dies die gleichen, welche damals die blühenden Landschaften versprochen und den Aberglaube an den Sozialismus der Ossis belächelt haben. Hochmut kommt vor dem Fall! Es ist natürlich nicht einfach sein eigenes Weltbild offen ändern zu müssen. Deswegen wird bis zum Schluss an dem nicht-funktionierenden Altland festgehalten. Aber am Ende begreifen es auch die Letzten oder landen im Alkohol !
Nach der 2. Wende
…Die Märchen hören dann immer auf mit „und wenn sie nicht gestorben sind…“. Im wirklichen Leben geht es aber weiter.
Kommt dann z.B.? :
- Wir erkennen das unsere Energie komplett aus erneuerbar/Öko kommen muß. Allerdings machen das wieder die großen Energiekonzerne. Sie akkumulieren z.B. die Biomasse und nutzen sie dann in Großkraftwerken. Die Bauern bekommen weiterhin wie bei Milch, Getreide und Fleisch vorgegebene Preise. Der Gewinn fließt wieder aus der Region ab.
- Wir erkennen, daß unser Zinssystem eine Ursache des irrsinnigen Wachstumsdrucks ist und die Schere Arm/Reich immer mehr auseinandertreibt. Wir schaffen deswegen ein gesünderes Geldsystem mit Umlaufsicherung. Dies übernimmt dann aber wieder eine Zentralbank und damit wird wieder eine Machtstruktur etabliert.
- Wir erkennen, daß die Politiker nicht immer im Sinne des Volkes entscheiden und schaffen den Lobbyismus ab und nehmen die Politiker auch mehr in die Verantwortung bei Fehlentscheidungen (Pensionskürzung, Gehaltskürzung). Aber wer macht das? Reicht das?
- usw.
…und wir werden wieder zu treuen Lemmingen degradiert…
…oder schaffen wir es dann uns nicht wieder die „Butter vom Brot zu nehmen“? Geben wir die Macht nicht wieder an eine Gruppe „Schlauere“ ab, sondern schaffen Systeme in Wirtschaft+Gesellschaft indenen gar keine Ausbeutung mehr erfolgen kann (s. strukturelle Nichtausbeutungsfähigkeit)? …Eine wirkliche Demokratie und freie Gesellschaft mit einer nachhaltigen und zukunftsfähigen Wirtschaft + Geldsystem? z.B.
- Wir schaffen eine dezentrale, nachaltige Energieversorgung aus frei verfügbaren oder nachwachsenden Rohstoffen. Jede Stadt hat ihren Energie-Mix angepasst an die eigene Region und stellt das meiste auch mit kleinen+mittleren Blockkraftwerken, Wind-, Sonne- und Biomasse selbst her. Somit bleibt die Wertschöpfung auch in der Region
- Wir stellen ein komplementäres Geldsystem neben das bestehende. Dieses besteht wie die Energie aus einem gesunden Mix von Währungen, welche genau für ihren Zweck konzipiert sind.
- Wir führen eine flüssige Demokratie ein, in der jeder ohne großen Aufwand mitbestimmen kann oder aber seine Stimme jederzeit an andere verleihen kann, denen man vertraut und die mehr Ahnung haben.
Man darf gespannt sein…
Jeder bekommt die Regierung und das System, was er verdient…
Falls es nicht klappt, dann sind die Menschen vielleicht bei der 3. Wende schlauer…?!
Strukturelle Nichtausbeutungsfähigkeit (herrlich sperrig) und flüssige Demokratie => gefällt mir.
Ich bin nicht allzu optimistisch, was die Eigenverantwortung/Verantwortung des Einzelnen anbetrifft, welche die Basis für jede Veränderung auf jeder Stufe ist. Hat sich das menschliche Bewusstsein wirklich weiterentwickelt?