Der Umgang mit Komplexen Systemen II
27.02.2009 von michey
Eines der interessantesten Themen, auf die ich bisher gestoßen bin, ist das Thema des Sensitivitätsmodells, wie es von Professor Frederic Vester in seinem Buch „Die Kunst vernetzt zu denken – Der neue Bericht an den Club of Rome“ beschrieben wird. Es ist ein ein Buch, das ich jedem Menschen nur ans Herz legen kann. Warum ist die Fähigkeit, vernetzt zu denken im Umgang mit Komplexen Systeme so wichtig? Ist der Umgang mit komplexen Systemen nur etwas für Wissenschaftler oder betrifft dieses Thema uns alle? Die meisten Menschen nehmen das Wort System oft in den Mund. Was aber ist ein System? Was ist ein Komplexes System? Diese Fragen möchte ich gerne in diesem Artikel erläutern. Ziel dieses Artikels ist es, ein Bewußtsein dafür zu vermitteln, dass komplexe Systeme allgegenwärtig sind und dass sie ein Eigenleben haben – aber eins nach dem Anderen …
Was ist ein System?
„Ein System ist eine Gesamtheit von Elementen, die so aufeinander bezogen sind und in einer Weise wechselwirken, dass sie als eine Aufgaben-, sinn- oder zweckgebundene Einheit angesehen werden können und sich in dieser Hinsicht gegenüber der sie umgebenden Umwelt abgrenzen.“ [Quelle: Wikipedia] Also kann ein Auto zum Beispiel als System gesehen werden. Der Motor des Autos ist wiederum ein eigenes Untersystem, dass in das System Auto integriert ist. Der Kühlkreislauf des Automotors ist wiederum ein Untersystem des Automotors.
Auch ein Mensch ist ein System, das aus vielen unterschiedlichen Organen besteht. Der Blutkreislauf ist ein Untersystem des Systems „Mensch“. Ein rotes Blutkörperchen ist ein Untersystem des Systems „Blutkreislauf“. Der Zellkern des roten Blutkörperchens ist ein Untersystem des Systems „rotes Blutkörperchen“ usw.
Diese Denkweise bezeichnet man als Systemdenken. Das Systemdenken ermöglicht es, bei komplexen Vorgängen den Überblick zu behalten. Zwischen dem System „Auto“ und dem System „Mensch“ gibt es aber wesentliche Unterschiede. Einem Auto fehlen viele Eigenschaften, die typisch für komplexe Systeme wie z.B. dem Menschen sind.
Was ist ein komplexes System?
Die Beantwortung dieser Frage liegt mit besonders am Herzen, weil sie ganz wesentliche Grundlagen darüber enthält, womit man es bei einem komplexen System zu tun hat. Die Antwort auf diese Frage soll dem Leser auch ein Gefühl dafür vermitteln, einem Komplexen System mit einem gewissen Respekt gegenüber zu treten. Man hat es bei komplexen Systemen immer mit einem System zu tun, das ein Eigenleben besitzt. Ein solches System lässt sich nicht einfach so unbeschadet ändern, aber dazu komme ich später. Zunächst soll der Begriff des komplexen Systems geklärt werden:
Komplexe Systeme zeigen eine Reihe von Eigenschaften:
- Nichtlinearität: Kleine Störungen verursachen gravierende und unterschiedliche Ergebnisse.
- Emergenz: Komplexe Systeme bilden spontan Phänomene heraus.
- Wechselwirkung: Einflüsse auf ein Systemteil haben globale Auswirkungen bezogen auf das gesamte System.
- Offenes System: Komplexe Systeme sind abhängig vom Durchfluss von Energie und Materie
- Selbstorganisation: Komplexe Systeme können „lernen“
- Selbstregulation: Komplexe Systeme haben die Fähigkeit zur Selbstregulation und zur Selbstheilung.
- Komplexe Systeme sind abhängig von ihrer Vorgeschichte
- Attraktoren: Komplexe Systeme streben gewisse stabile Zustände an, die aber chaotisch variieren können.
Die menschliche Gesellschaft zum Beispiel ist ein komplexes System mit einem Eigenleben. Eine Gesellschaft hat das Bestreben, gewisse stabile Zustände anzustreben. Zum Beispiel kann ein stabiler Zustand darin bestehen, dass eine Gesellschaft eine demokratische Regierungsform ausbildet, die dann eine Zeit lang stabil bleibt. Durch äußere Einflüsse oder durch innere Vorgänge können in einer menschlichen Gesellschaft Umbrüche in Gang gesetzt werden, die dazu führen, dass zum Beispiel ein Diktator die macht ergreift und die Bevölkerung tyrannisiert. Dieser Zustand kann dann wieder über Jahrzehnte hinweg stabil bleiben. Die Gesellschaft wird immer versuchen, stabile Zustände anzustreben, um weiter zu funktionieren und zu überleben.
Angenommen, wir denken uns ein erfundenes Land, das von einer Parteidiktatur tyrannisiert wird. Wir sehen die Zustände in diesem Land und wollen den Menschen in diesem erfundenen Land helfen. Die Menschen sollen so leben können, so wie wir uns ein glückliches erfülltes leben vorstellen. Wir behalten im Hinterkopf, dass dieses erfundene Land ein komplexes System ist – das ist sehr wichtig. Wie können wir den Menschen in diesem Land helfen? Angenommen, wir greifen in dieses Land militärisch ein, stürzen die dortige Regierung und stören die gewachsenen Strukturen der dortigen Gesellschaft sprunghaft. Die Folge ist, dass durch die Zerschlagung der gesellschaftlichen Strukturen auch die Selbstheilungskräfte der Gesellschaft stark geschwächt sind, und das Land wird für lange Zeit in noch größeres Elend stürzen. Die Menschen in dem erfundenen Land haben über Jahrzehnte gelernt, das beste aus der Tyrannei zu machen und müssen nun nach der Zerstörung ihrer Systemstrukturen ihre Kraft dazu aufwenden, neue Strukturen aufzubauen und gleichzeitig zu überleben. Die Folge ist meist, dass ein neuer Tyrann die Macht in dem Land ergreift und noch mehr Elend erzeugt wird.
Was wäre, wenn wir das erfundene Land einfach in Ruhe lassen und den Menschen dort nicht „helfen“? Was wäre, wenn wir auf die Selbstheilungskräfte von komplexen Systemen vertrauen, sprich wenn wir den Menschen dort zutrauen, dass sie eigene Lösungen entwickeln können? Was wäre, wenn wir den Menschen in diesem erfundenen Land einfach ein guter Nachbar sind und die Idee einer freien Gesellschaft selbst praktizieren, anstatt sie anderen aufzuzwingen? Die Menschen in dem erfundenen Land würden sehen, wie wir leben und sie würden die Dinge von uns übernehmen, mit denen sie etwas anfangen können. Sie hätten vor allem Zeit, sich an die fremden Ideen zu gewöhnen und diese Dinge auf ihre Bedürfnisse anzupassen. Veränderungen würden sich so ohne eine Zerstörung der Systemstruktur vollziehen, wenn die Zeit reif dafür ist.
Sechs Fehler im Umgang mit komplexen Systemen
Wir Menschen neigen dazu, linear zu denken. Wir sehen eine Ursache und die wesentlichste Wirkung dieser Ursache. Wir stoßen zum Beispiel ein Glas Milch um und sehen, wie die Milch über den Tisch auf den Boden läuft. Das können wir begreifen. Wir begreifen auch, dass wir die Milch wieder aufwischen müssen, weil die Milch auf dem Boden nach einigen Tagen beginnt zu stinken. Das ist dann ekelig und wir begreifen diese Wirkungskette relativ gut, weil wir solche Situationen gewohnt sind.
Ein Glas umgeschütteter Milch hat aber weitreichende Konsequenzen, die sich auf das ganze weitere Leben auswirken können. Ein Beispiel: Wenn ich das Glas Milch umschütte, dann ärgere ich mich. Warum ich mich ärgere? Wahrscheinlich, weil sich meine Eltern schon geärgert haben, wenn sie eine Tasse Kaffee umschütteten? Die Ursachen sind vielfältig und liegen im Dunkeln. Auf jeden Fall ärgere ich mich und verliere wertvolle Zeit beim aufwischen. Warum ist die zeit so wertvoll, dass mich der Verlust der Zeit ärgert. Nun ja, wir leben in einer Gesellschaft, in der man einen Großteil des Tages mit Erwerbsarbeit verbringen muss, um zu überleben. Auch hier sind die Ursachen komplex. Nun gut, ich ärgere mich wegen der Milch und fahre dann schlecht gelaunt und unvorsichtig zu einem Geschäftstermin. Ich fahre zu schnell und nehme einem Autofahrer die Vorfahrt. Der Autofahrer erschrickt und bremst scharf. Der Unfall wird verhindert aber der Autofahrer ist für den Rest des Tages schlecht gelaunt. Die Geschichte des Autofahrers verändert sich an diesem Tag durch den Schreck, aber das ist eine andere Geschichte. So hinterlässt das verschüttete Glas Milch seine Spur komplexen System der menschlichen Gesellschaft.
Diese kleine Geschichte war ein Beispiel des vernetzten Denkens im Gegensatz zum linearen Denken. Aus der Vernachlässigung des vernetzten Denkens folgen wesentliche Fehler im Umgang mit komplexen Systemen.
- Falsche Zielbeschreibung: Probleme werden durch Bekämpfung der Symptome nur scheinbar beseitigt.
- Unvernetzte Situationsanalyse: Es werden nur ausgewählte aspekte eines komplexen Systems isoliert betrachtet
- Irreversible Schwerpunktbildung: Die wesentlichen Mechanismen werden nicht erkannt. Es wird an Symptomen manipuliert, deren Auswirkungen aber nur unwesentlich sind.
- Unbeachtete Nebenwirkungen: Die Nebenwirkungen von Maßnahmen werden nicht beachtet.
- Tendenz zur Übersteuerung: Das komplexe System reagiert mit Verzögerung auf Steuerungsversuche. Darum wird der Steuerungsversuch übertrieben.
- Tendenz zu Autoritärem Verhalten: Das komplexe System wird willkürlich umstrukturiert, ohne Rücksicht auf Regelkreise, die unterstützend wirken könnten. Es wird außerdem von außen entschieden, was gut oder schlecht zu sein hat.
Wie ist also mir komplexen Systemen umzugehen, nachdem wir uns ihre grundlegenden Eigenschaften bewußt gemacht haben? Das soll in der Fortsetzung dieses Artikels mit dem einstieg in die Kybernetik erläutert werden.